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REVENGE OF THE UNDERWORLD: Die Erleuchtung
Erstes Kapitel
Dunstbild
Dichter Staub hüllte mich, wie eine Decke aus feinem Tüll, ein. Hustend richtete ich mich vom aschebedeckten Steinboden auf, sodass mein langes, sandblondes Haar über meine Schultern fiel. Die staubige Luft erschwerte mir das Atmen, dennoch gelang es mir auf die Beine zu kommen. Was ist bloß geschehen?, fragte ich mich verwirrt, wobei der dichte Rauch nach und nach Umrisse freigab. Im Flackern erkannte ich erst im zweiten Moment die Gefahr – Flammen loderten so gefährlich, wie das Feuer aus dem Schlund eines Drachen.
Aus dem verschwommenen Nichts schoss ein kräftiger Mann, mit wehendem Mantel, auf einem weißen Pferd an mir vorbei. Seine Kleidung schien mir seltsam altmodisch, sein Gesicht vom Hass verzerrt. Auf der glänzenden Klinge seines Schwertes tanzten die Flammen, ehe er zustach und einen mir unbekannten Krieger niederstreckte. Der Wind drehte sich und vertrieb den grauen Schleier aus Asche und Staub. Hinter den blaulila Bäumen glaubte ich einen saturnähnlichen Planeten, samt zweier Monde zu erkennen. Ich schluckte und blinzelte, als mich das Klirren der Schwerter zurückholte. Das Klirren der Schwerter holte mich zurück.
Einem Krieg der Antike gleich, kämpfte jeder um sein Leben. Eine rothaarige, zierliche Frau verlor den Schwertkampf gegen eine andere. Um mich herum starben im Sekundentakt dutzende Personen. Es war, als wäre jeder der Feind von jedem.
Panisch löste ich mich aus der Starre. Verängstigt und vollkommen durcheinander, versuchte ich dem Schlachtfeld zu entkommen. Ich stolperte mehrfach und drohte auf den kalten Marmorboden zu fallen. Schmerz durchströmte mich, als mich ein fester Hieb auf dem Hinterkopf traf und ich benommen auf die Knie sank. Die Bilder verzerrten sich im Ton des Klirrens der Schwerter und des Geschreis, die durch die sonderbare Gegend hallten.
Ein brünetter, junger Mann mit Reuegefühl in den Augen, dessen hölzerner Griff seines Schwertes ein fürchterliches Gesicht zierte, richtete die lange Klinge auf mich. Ein seltsames Gefühl von Unwohlsein und Abneigung durchströmte mich, stärker als die Angst. Bevor der Kämpfer auf mich losgehen konnte, sprang eine Blondine aus den Rauchschwaden und fing dessen Schwerthieb mit ihrem Schild ab. Von unten kommend, verwundete sie den Mann mit einem gekonnten Hieb ihres schlanken Speeres. Ehe dieser begriff, wie ihm geschah, war es bereits zu spät. Fassungslos sackte der Mann zusammen. Er legte eine Hand auf die klaffende Wunde seines Bauches, während die andere das schwere Schwert zu halten versuchte. Mit einem Ruck löste sich der Speer der blonden Frau aus des Mannes Fleisch. Mit Besorgnis in den Augen hastete sie zu mir herüber. Mein Herz schlug so schnell in meiner Brust, das es mich schwindelte. Die blasse, junge Frau, mit den eisblauen Augen, hielt mir ihre Hand entgegen, um mir aufzuhelfen.
»Wende ihm nie den Rücken zu, Elaine«, riet sie mir äußerst herzlich und hob dabei die Klappe ihres wunderschönen Kopfschutzes, den ein hellblauer Kamm aus federähnlichem Material zierte. Die Frau in der Rüstung, deren Stil griechisch war, streckte ihre Hand in die Luft. Es ertönte ein melodischer Tierruf, woraufhin eine hellbraune Eule aus der Wolkenbank hinunterflog und sich auf dem Handgelenk der Unbekannten niedersetzte.
»Wer bist du?«, fragte ich völlig fasziniert und strich mir mein glattes Haar aus dem Gesicht, das vom immer windiger werdenden Wetter aufgewühlt wurde.
Die Kriegerin, mit dem blassen, gelockten Haar, schwieg einen Moment, bevor sie mir antwortete. »Zweifle nie an deinem Schicksal.«
Als wäre die Zeit an diesem seltsamen Ort stehen geblieben, spürte ich, wie sich die Umgebung langsam verzerrte. Der jähzornige Mann, vor dem ich beschützt worden war, kam mit erhobenem Schwert auf uns zu gerannt und erstach die Frau aus dem Hinterhalt. Mein Hilferuf, mit dem ich sie zu warnen versuchte, wurde von der Umgebung verschluckt, als wäre ich nicht Teil der Geschehnisse. Mit Tränen in den Augen versuchte ich zu ihr zu rennen und wollte ihr helfen. Doch mich hielt eine unsichtbare Kraft zurück. Jeder Gegenstand, jede Person und sogar die Luft begannen sich zu drehen. Auch die Bäume verzerrten sich auf unnatürlichste Weise, als würden sie immer mehr an Realität verlieren.
»Elaine? … Hallo? Schätzchen, bist du noch da?«, hörte ich erst jetzt die besorgte Stimme meiner Mutter. Ich schaute in dunkelblaue, ovale Augen, die sanft vom Alter gezeichnet waren. Völlig neben der Spur fasste ich mir an meine feuchte Stirn. Was zur Hölle war das? Je mehr ich darüber nachdachte, desto klarer wurde ich mir darüber, was gerade geschehen war. Seit geraumer Zeit plagten mich hin und wieder Halluzinationen. So nannte ich sie jedenfalls. Zu den unterschiedlichsten Zeitpunkten suchten mich seltsame Dinge heim, sodass ich für Außenstehende völlig abwesend erschien. Manchmal waren sie sogar so stark, dass ich mich Schritt für Schritt, gleich mit der Halluzination, mitbewegte. Da konnte ich jetzt nur von Glück reden. Es wäre nicht toll gewesen, auf diese Weise aus dem Auto zu springen oder um mich zu schlagen.
»Mir geht es gut. War nur in Gedanken versunken«, gab ich betrübt zurück. Die Müdigkeit traf mich wie ein Schlag.
Mums ernste Miene zierte nach kurzem Zögern ein erleichtertes Lächeln. »Gleich sind wir da. Die Fahrt hat auch wirklich geschlaucht.«
Ich nickte ernst und widmete mich der unendlichen Landschaft, die aus hügeligen Feldern bestand. Mintgrün und in zarten Brauntönen erhoben sich die vielschichtigen Pflanzen. Aufgrund der bereits erwarteten Kopfschmerzen, die ich immer nach den Halluzinationen hatte, öffnete ich die Fensterscheibe des Autos. Nach Sauerstoff verlangend, streckte ich meinen Kopf heraus, um diesen gierig einzuatmen. Immer noch hatte ich den rauchigen, metallischen Geschmack im Mund.
»Zweifle nie an deinem Schicksal«, dachte ich grübelnd an die Worte der Kriegerin zurück.
Langsam näherten wir uns einem großen Haus, das ich aus der Entfernung bewunderte. Wild flatterten meine Haare im frischen Wind umher und ich strich mir eine Strähne aus dem Gesicht. Viele Baumarten erstreckten sich in der naturnahen Umgebung, doch es überraschte mich kaum, nur wenige Häuser in dem winzigen Dorf gesehen zu haben. Daher erstaunte es mich auch nicht, dass meine Eltern ein modernes, weißes Haus, das mutterseelenallein in einer Straße stand, gekauft hatten. Ehe wir anhielten, sog ich mit geschlossenen Augen die befreiende, klare Luft erneut tief ein. Sie roch nach frischem Gras, nach Erde und blühenden Blumen des Frühlings. In London roch es immer nach schweren Abgasen und Metall. Die weite Natur aus Wiesen und Wäldern ließ zwar mein Herz höher schlagen, aber der Gedanke, dass ich an eine neue Schule würde gehen müssen, überschattete dieses Gefühl. Ganz zu schweigen davon, dass ich meine Freunde zurücklassen musste.
Dad fuhr den Kombi auf das riesige Grundstück.
»Willkommen in unserem neuen, schönen und vor allen Dingen ruhig gelegenen Haus«, erklang die Stimme von Mum mit einem übertrieben fröhlichen Unterton, der mir natürlich sofort auffiel; sie hatte ihre wahren Gefühle noch nie vor mir verheimlichen können. Mein kleiner Bruder Max brachte daraufhin nur ein leises Lachen heraus. Er schlug sich die Hände vors Gesicht, sodass ich nichts außer seiner wuscheligen, blonden Haare sah, die ihm wie gewohnt zu Berge standen.
Obwohl ich noch etwas überrumpelt, aufgrund des plötzlichen Umzugs war, konnte ich es kaum erwarten, das Haus unter die Lupe zu nehmen. Mir gefiel besonders die geräumige Terrasse am Eingang und der kleine See, der nicht mal zwanzig Meter vom Eingang entfernt lag. Ich war mir definitiv sicher, dass Mum sich zuerst in das Haus verliebt hatte. Es war äußerst modern und nichts konnte sie bei ihrem Hobby und Beruf, der Malerei, hier stören. Ihre Bilder waren von der Natur und ihren vielfältigen Motiven geprägt, sicherlich würde sie hier viele Inspirationen finden. Insgeheim träumte sie von einer eigenen Ausstellung, vielleicht würde dieser Traum hier ja nun endlich wahr werden.
»So, dann zeigen wir euch mal eure Zimmer«, verkündete Dad überglücklich, während ich mit verschränkten Armen vorsichtig die Umgebung beäugte. In der Ferne, direkt an der anderen Seite des Sees, sah ich ein Flachdachhaus, das riesige Fenster wie in einem Modeladen hatte. Vielleicht war es aber auch eine Luxusferienvilla. Oder Nachbarn, was ein Segen wäre. »Dad, wessen Haus ist das?«
»Das ist meine neue Praxis«, er lächelte über beide Ohren und ich erkannte, wie glücklich er darüber war. Mein Mund formte ein ›O‹, doch ich brachte vor Erstaunen keinen Ton raus. Mein Vater war Schönheitschirurg, seine Spezialität waren Nasen, jedoch kein ›Einheitsmodell‹ wie bei vielen anderen seiner Kollegen. Vielmehr nahm er nur kleine Veränderungen vor, die dem Gesicht seiner Patientinnen aber das perfekte Aussehen verliehen. Sie liebten ihn dafür.
»Wer zuerst das größere Zimmer erwischt!«, rief Max, der bereits Anlauf nehmen wollte, mir zu, wurde aber von Mum an der Schulter zurückgehalten.
»Das denkst du dir so, Max. Dein Vater und ich haben jedem dass nach unserer Meinung passende Zimmer bereits zugeteilt.«
Danke Mum! So konnte mir das Gequengel und die Rennerei meines Bruders vorab erspart werden. Ich warf ihm ein schadenfrohes Lächeln zu.
»Na toll«, murmelte Max beleidigt, der mir mittlerweile schon bis zu den Schultern reichte. Er sah viele Augenblicke als perfekte Gelegenheit mich zu ärgern. Aber ich wusste, dass er sich immer nur einen Spaß erlauben wollte.
»Tja, siehst du mal, Max. Mal schauen, wer von uns das hübschere Zimmer erwischt hat«, ärgerte ich ihn und grinste dabei vergnügt. Wie ich es liebte, meinen elfjährigen Bruder zu necken.
Der kleine Blondschopf zuckte mit den Schultern. »Hauptsache, weit weg von deinem Zimmer!«, konterte er beleidigt.
Bevor ich darauf reagieren konnte, zischte Mum mit leichtem Sarkasmus dazwischen: »Vielleicht bekommt ihr beide doch den Keller.«
Das war mal eine Ansage. Sogar Max schwieg.
Im ersten Stock betrat ich das erste Mal mein Zimmer. Das Tageslicht schien hell durch zwei große Fenster und einer Balkontüre, die prompt meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ob man von meinem Zimmer aus wohl einen Blick auf den See hatte? Ja, so war es. Wow!
Dieses Zimmer war mindestens doppelt so groß wie mein früheres. Ich begutachtete den hochwertigen Parkettboden und die hellgrünen Wände, die um die drei Meter hoch sein mussten. Ein großer begehbarer Kleiderschrank, der noch einmal so groß wie der eigentliche Wohnraum des Zimmers war, versetzte mich in erneutes Staunen. Das war erst einmal ein Schlag für mich. Ich war zwar keine große Modequeen, fand es aber toll, einen begehbaren Kleiderschrank zu haben. Noch besser war, dass mir ein eigenes Bad gehörte. Nie wieder nerviges Gedrängel mit Max.
Erstaunt lehnte ich mich gegen die Fensterbank und schaute nach draußen, wo der See im Wind feine Wellen schlug. Die Sonnenstrahlen legten sich wie eine Wärmedecke auf meine Haut. Bei den herrlichen Temperaturen tanzten Hummeln und Schmetterlinge in der Mittagssonne. Meinen Blick der Natur zugewandt und in Gedanken versunken, dachte ich an meine alte Schule und die Freunde, die ich dort hatte. Jenna kannte ich seit dem Kindergarten und Tate hatte ich in der Schule kennengelernt. Ich erinnerte mich an die Zeit mit Jenna zurück, als wir beide noch keine zehn Jahre alt gewesen waren. Damals rissen wir heimlich die Tulpen und Stiefmütterchen unserer Nachbarin Mrs. Stone heraus, die wir dann unter unserem Baumhaus eingepflanzt hatten. Dabei hatte Mrs. Stone uns hinterhergerufen und versucht, uns zu fangen, jedoch ohne Erfolg. Was ich damals für eine Predigt von meiner strengen Mum hatte einstecken müssen. Dieser Gedanke zauberte mir ein Lächeln ins Gesicht. Jenna fiel mein Umzug definitiv schwerer als mir. Sie und Tate hatten noch nie meinen Optimismus verstanden.
Während andere daran verzweifelten umziehen zu müssen und ihre Freunde zurückzulassen, kam ich irgendwie damit klar. Es gab ja noch Telefone, Skype, Ferien und Wochenenden. Außerdem war ich mit meinen siebzehn Jahren bald schon reif fürs College. Da trennten sich so oder so unsere Wege. In Gedanken versunken, zog ich mein Smartphone hervor und schrieb Jenna eine kurze Nachricht. »Bin angekommen. Unser Nachbar ist der Wald…«
Als ich vom Handy wieder aufsah, zuckte ich innerlich zusammen. Am Waldrand stand eine Person. Da sie aber im Schatten war, konnte ich keine Details erkennen, außer dass sie stämmig und recht groß war. Meine Eltern konnten es nicht sein. Unten hörte ich Dad Mum irgendwas über das Sofa fragen. Max musste im Zimmer abhängen – er wäre sowieso zu klein für die Person da draußen. Ich zögerte nicht lange, auf den Balkon zu gehen. Komisch, der Möbelwagen war noch nicht eingetroffen. Vielleicht ein Nachbar von der Straße nebenan? Noch immer stand die Person da. »Hallo?«, rief ich nach unten. War es ein Mann? Die Silhouette ließ es mich vermuten. Von jetzt auf gleich drehte sich der Unbekannte um und verschwand in den Wald. Mit gemischten Gefühlen verließ ich meinen Balkon. Seltsam.
Das Aufreißen meiner Zimmertür ließ mich zusammenzucken. Es war Dad, der mal wieder nicht anklopfte. So typisch.
»Na Elaine? Stör ich dich?«
»Hast du den Typen da draußen gesehen?«, fragte ich schnell, ohne auf seine Frage einzugehen.
Seine hellbraunen Augen weiteten sich. »Ist der Möbeltransporter schon da?«
»Nein, dachte ich auch. Am Waldrand stand jemand«, erklärte ich Dad und zeigte auf die Stelle, wobei ich besorgter klang, als ich mich eigentlich fühlte. Dad, der knappe zehn Zentimeter kleiner als ich war, trat auf den Balkon, um nachzuschauen. Wie immer hatte er sich seine Lesebrille auf den hellblonden Kopf geschoben. Früher war ihm diese dauernd auf den Boden gefallen. Seitdem trug er sie an einem Brillenband.
»Vielleicht ein Spaziergänger. Im Wald sind einige Pfade. Er war bestimmt nur schaulustig«, besänftigte Dad mich und lächelte warm.
Er kam zurück ins Zimmer. »Wie gefällt dir das Haus und dein Zimmer? Ist der Balkon zu viel?«, hakte er hoffnungsvoll nach, wobei er sich wohl mehr Sorgen als nötig um mein Wohlbefinden machte. Vermutlich rechnete er damit, dass ich zurück nach London wollte und ihn dafür verantwortlich machen würde, mich neu eingewöhnen zu müssen. Wie so oft machte er sich zu viele Gedanken.
»Es ist sehr angenehm hier. Und, Dad? Ich komme schon zurecht. Mir fällt es nicht schwer, mich neu einzugewöhnen.« Ausgenommen die neue Schule. »Es ist nur ungewohnt für mich. London ist schon ziemlich das Gegenteil von Upper Dicker.«
»Und du bist nicht sauer?«, sorgte er sich und verknotete die Finger ineinander. Ich schmunzelte und richtete sein Hemd unter dem hellblauen Pullunder. »Natürlich nicht. Gibt es denn irgendwelche Läden hier?« Einzelne Geschäfte hatte ich auf der Hinfahrt nicht entdeckt. Dad meinte während der Fahrt, dass er nur den schnelleren Weg gefahren und dass es bewohnter im Dorf sei. Vielversprechend war das allerdings nicht.
»In der Nähe gibt es ein Modegeschäft und noch andere kleine Läden. Wir haben Rücksicht darauf genommen, dass es ein Schwimmbad gibt. Im Nachbardorf gibt es auch noch ein Kino. Ein kleines Städtchen.«
Besser als nichts. Und solange es ein Schwimmbad gibt, kann es nicht besser sein. Vielleicht bot ja auch der See im Sommer eine angenehme Temperatur. So könnte ich jedenfalls meinem Hobby, dem Schwimmen, nachgehen. Und wenn alles gut liefe, hoffte ich nächstes Jahr ein Studium im Bereich Sportwissenschaft zu beginnen. Ich nickte gelassen. »Ach Dad, wann eröffnest du deine Praxis?«
Er pustete die Luft aus den Wangen seines kantigen Gesichts und ließ die Hände in den Taschen der hellen Stoffhose versinken. »Der Umzug war sehr kurzfristig, genau wie die bevorstehende Eröffnung in einem Monat«, meinte er und fasste sich nachdenklich ans Kinn. »Wenn du dir die Praxis mal anschauen möchtest, kannst du das gerne tun.«
Ich nickte und dachte daran, die Umgebung genauer unter der Lupe zu nehmen.
»Und dir geht es wirklich gut wegen des Umzugs?«
»Dad, wirklich. Du weißt, dass ich klar komme.« Ich bewunderte meinen Dad für seine verständnisvolle und fürsorgliche Art sehr. Er war der liebevollste Vater, den man sich nur wünschen konnte.
Ich hörte seinen Atem erleichtert entweichen. »Von wem du wohl diesen Optimismus hast, mein Schatz? Das bewundere ich. Aber wenn dich irgendetwas bedrücken sollte, weißt du, du kannst mit mir und deiner Mutter reden. Vergiss das nicht.«
Anstelle einer Antwort lächelte ich ihn warm an. Anders als meine Mum war ich nicht so empfindlich und sensibel, nur die Sturheit und Neugierde hatte sie mir weitergegeben. Und Dad, er war der warmherzige Vater, der auch mal gerne durch seine verpeilte Attitüde auffiel. Von unten hörte ich meine Mum nach meinem Dad rufen.
»Na gut, jetzt richte dein Zimmer ein. Der Umzugswagen müsste jeden Moment eintrudeln. Die Möbel werden dann von den Möbelpackern in dein Zimmer gebracht«, informierte er mich und verließ mein Zimmer. Ich ahnte schon, dass es ewig dauern würde, mein Zimmer eingerichtet zu bekommen. In der Zwischenzeit plante ich, wo welche Möbel stehen sollten.
Um neunzehn Uhr hatte die Dämmerung draußen bereits eingesetzt, als Mum uns zum Abendessen ins Wohnzimmer rief. Prüfend betrachtete ich mein neu eingerichtetes Zimmer und war durchaus zufrieden. Alte Fotos von Jenna und Tate und andere Erinnerungen schmückten die Wand an meinem Himmelbett. Auch mein Lieblingsbild, das mir meine Mum gemalt hatte, als ich zehn war, hing dekorativ daneben. Es zeigte ein geflügeltes Pferd im Himmel, das mit der Galaxie in harmonischem Einklang verschwamm. Mit einem letzten, prüfenden Blick wollte ich hinuntergehen, als plötzlich ein Dröhnen in meinem Kopf zu hallen begann. Ein so dunkles Grollen, dass ich mir mit geschlossenen Augen schmerzverzerrt die Ohren zuhielt und zu Boden sank. So plötzlich es gekommen war, so plötzlich war es auch wieder verschwunden. Mir blieb die Spucke weg, als ich die Augen öffnete und mein Zimmer in Flammen stand. Das Dach – oder das, was davon übriggeblieben war – stürzte hinter mir ein und ich sprang instinktiv zur Seite. Der aufsteigende Rauch glich dem mit Wolken umwobenen Himmel. Das Parkett meines Zimmers war durchgebrochen und ich konnte ins Wohnzimmer unter mir blicken. Verstört kniete ich auf einer der übriggebliebenen Parkettstreben, die jetzt ebenfalls zusammenzubrechen drohten. Mit einem weiteren Sprung gelang es mir, noch rechtzeitig in den Flur zu hüpfen, der noch fast vollständig in Takt war. Der schwere Rauch verdichtete sich in meinen Lungen und ich hustete hilflos, bis mit einem Mal das Geschehnis zu Ende war. Ich hockte im Flur – alles war wieder normal, doch ich brauchte einen Moment, bis ich mich wieder aufrichten konnte. Das Kratzen im Hals ließ nach. Um mich zu vergewissern, dass alles wieder normal war, ging ich zurück ins Zimmer. Das Dach war, wo es sein sollte, der Boden ebenso. Verdutzt dachte ich zurück an die Halluzination. Heute war es bereits die zweite gewesen. In solch einem kurzen Abstand hatte ich noch nie welche gehabt. Meine allererste Halluzination war in London in einem Café gewesen, bei der die Umgebung auf dem Kopf zu stehen schien. Eine andere spielte sich an der U-Bahn ab, wobei der Zug entgleiste. Nur Jenna erzählte ich damals davon. Sie glaubte mir anfangs nicht, bis die U-Bahn wenige Monate danach tatsächlich entgleiste. Von diesem Augenblick an glaubte Jenna, dass ich hellseherische Fähigkeiten besaß. Doch ich stempelte ihre Behauptung als Zufall ab. Es war nicht derselbe Zug und der Tag, den ich in genau dieser Erinnerung gesehen hatte. Also reiner Zufall. Aber warum hatte ich diese Halluzinationen? Lag es an der Pubertät? Ich wusste nicht, wie ich dies alles einordnen sollte.
»Elaine?«, hörte ich die bestürzte Stimme meiner Mutter nach mir rufen. Sofort ging ich hinunter und sah das möblierte und dekorativ gestaltete Wohnzimmer. Die Wände waren in einenm zarten Orange gestrichen und moderne, sowie altmodische Möbel passten erstaunlich gut zusammen. Alles in diesen Raum harmonierte miteinander und war fantastisch gewählt. Die gemütliche Sitzgruppe, fügte sich wunderbar zu Dads riesiges Eckregal, welches erst zur Hälfte gefüllt war. In der Ecke des Raumes standen noch einige offene Umzugskartons, worin ich ein paar Bücher mit der Aufschrift ›Röntgen und Ablesen des Bildes‹ und ›Der verwunschene Kessel‹ erkennen konnte. Mist. Ein ziehender Schmerz rannte durch mein Schienbein. Ich musste mich im Zimmer gestoßen haben. Schnell warf ich einen Blick unter meine dunkelblaue Leggings. Das sah übel aus. Die gerötete Stelle begann sich bereits bläulich zu verfärben. Das würde definitiv ein dicker Bluterguss werden.
Ich verließ gerade den Treppenabsatz, als der liebevoll gedeckte Tisch meine Aufmerksamkeit weckte. Es gab Kakao, Tee, Scones und Toast, Baked Beans mit Spiegeleiern und gebratenem Bacon. Auch mangelte es nicht an frisch geschnittenen Tomaten und Gurken. Meine Mum liebte die Perfektion nicht nur. Sie lebte sie.
Mit fragendem Blick stand Mum vor dem Tisch. »Ist alles in Ordnung? Wir haben oben ein Rumpeln gehört.« Eine ihrer dünnen Augenbrauen zog sich etwas in die Höhe. Ein Warnsignal, das ich nur allzu gut kannte.
»Ich habe nur noch das Bett an die rechte Stelle gerückt. Echt hübsch hergerichtet. Hat Dad beim Dekorieren geholfen?«, lenkte ich ab und sah wieder das Bild meines brennenden Zimmers vor Augen. Da mein Schädel noch immer dröhnte, suchte ich in den Küchenschränken nach Kopfschmerztabletten.
Der Blick meiner Mutter entspannte sich und auch ihre Augenbraue war wieder an Ort und Stelle. »Er hat die Blumenvase gewählt«, fügte sie hinzu, wobei sie feixend kicherte. Mum war eine echte Schönheit für ihr Alter. Max hatte dasselbe, dunkelblonde Haar und ihre blauen Augen, während ich mit meinen sandblonden Haaren und hellbraunen Augen eher nach Dad kam. Nur waren seine Augen mandelförmig – das genaue Gegenteil von meinen, die tiefliegend waren.
Mit einem versteckten Grinsen sah ich zu Dad, nachdem ich endlich die blöde Blisterverpackung gefunden hatte.
»Ja, ich gebe offen zu, dass Eleanor für diese hübsche Einrichtung verantwortlich ist. Natürlich abgesehen von der Vase«, erklärte Dad mit der Zeitung in der Hand. So unterschiedlich meine Eltern waren, so perfekt passten sie zusammen. Ihre Gegensätze hätten größer nicht sein können. Dad liebte seinen Job, das Modellbauen und Bücher. Mum hingegen rührte Bücher nur für Zwecke der Kunst an, liebte Mode und war anspruchsvoll. Dad wiederum nicht.
In Gedanken versunken blickte ich zur Vase. »Na ja, sie ist immerhin ein echter Hingucker«, bemerkte ich spöttisch und stellte mir vor, wie Dad kreativ tätig wäre. Das pure Chaos.
»Hast du Schmerzen, Elaine?«, fragte Mum mich, als ich die Tablette mit einem Schluck Wasser hinunterspülte.
»Nur Kopfschmerzen«, murmelte ich auf dem Weg zu meinem Platz.
»Kann ich anfangen, Mum? Ich bin am Verhungern«, jammerte Max dazwischen, wobei ich ihm am liebsten die Faust auf dem Kopf gerieben hätte. Max war, nun ja, eben Max. Das Wort überraschend traf am ehesten auf ihn zu. Denn er war ein Scherzvogel, rotzfrech und etwas zu selbstsicher.
»Maaaaax. Wir essen immer zusammen«, ordnete Mum warnend an und kam kurz danach zu uns an den Tisch.
»Du solltest ihm nur Brot und Wasser vor die Nase stellen, weil er immer quengelt wie ein Baby«, ärgerte ich meinen Bruder und warf ihm einen vergnügten Blick zu. Max streckte mir die Zunge heraus. Dieser kleine Frechdachs …
Nach dem Abendessen mussten wir uns eingestehen, dass der Umzug körperlich so seinen Preis hatte. Zu etwas anderem, als einen Filmabend zu starten, war keiner von uns mehr in der Lage gewesen. Daher dauerte es nicht lange, bis wir auf dem großen Sofa erschöpft einschliefen. Der Umzug hatte uns alle ziemlich ausgelaugt und bei mir kamen noch die merkwürdigen Halluzinationen hinzu.
Ein warmer Sonnenstrahl weckte mich in Begleitung der zwitschernden Vögel, die ich in London sonst selten zu hören bekam. Punkt für Upper Dicker. Müde schlug ich meine Augen auf und blickte auf den weißen Stoff meines Himmelbettes. Er wehte sanft im Zug des offenen Fensters und schlug feine Wellen. Wie bin ich in mein Zimmer gekommen? Dreh ich jetzt schon völlig durch?, fragte ich mich und raffte mich gähnend auf. Ich warf einen neugierigen Blick aus dem Fenster zu den saftig grünen Wiesen und dem erfrischend aussehenden See, wo gerade ein Rentner mit kurzer Hose und hochgezogenen Socken angelte. Seine Frau lag neben ihm auf dem Rasen und sonnte sich im Bikini, der ihr allerdings viel zu eng war. Ich dachte an die Silhouette von gestern, die am Waldrand gestanden hatte.
Bevor ich nach unten ging, schaute ich mir mein Schienbein an. Ich wollte mir nicht vorstellen, wie ich durchs Zimmer gestolpert sein musste. Erstaunlicherweise sah es halb so schlimm aus. Nur wenn ich die blaugelbe Stelle berührte, schmerzte es.
Unten in der Küche angekommen, traf ich auf Max, der schon gelangweilt in seinen Cornflakes herumrührte. Seine blonden, verwuschelten Haare standen ihm zu Berge, wie so oft.
»Ich dachte, du stehst gar nicht mehr auf«, beschwerte er sich bei mir, als ich mir ein Glas Wasser einschenkte. »Wie spät ist es?« Halbwach wartete ich auf eine Antwort.
»Bist du blind? Neben dir hängt 'ne Uhr. Eigentlich nicht zu übersehen«, brummte er genervt.
Du kleiner Idiot. Eigentlich hätte ich ihm gern die Cornflakes weggerissen, weil er sich so daneben benahm. Aber selbst dafür war ich noch nicht wach genug. Die Uhr zeigte mir, dass es schon nach elf war.
»Wo sind Mum und Dad?«, fragte ich an die Küchenzeile gelehnt.
Max schob sich den Löffel mit den Cornflakes in den Mund. »Die sind wegen der Praxis weggefahren. Irgendeinen schriftlichen Kram erledigen«, erklärte er mit vollem Mund. »Auf jeden Fall sind die seit acht Uhr weg und ich bin schon vor Langeweile gestorben.«
»Warum hast du mich nicht geweckt? Ist eh schon voll spät.«
»Hab ich versucht. Aber du pennst wie ein Stein. Ich hab mit meinem Handy ein Foto von dir gemacht. Sieht voll gruselig aus. Du warst total am Sabbern«, grinste er übermütig und schüttelte dabei den Kopf.
»Spinnst du, du kleines Ar…«, brummte ich, wobei ich mich jedoch selbst unterbrach, da ich merkte, dass meine Eltern gerade zur Tür reinkamen. Max lachte schadenfroh, mit seinem Handy in der Hand winkend.
»Oh Max!«, stieß ich wütend aus.
Mum lächelte uns strahlend an. »Na, habt ihr genauso gut geschlafen wie wir?«
»War in Ordnung«, sagte Max.
»Aber wie sind wir ins Bett gekommen?«, platzte ich dazwischen. Ich hoffte, Schlafwandeln ausschließen zu können.
Mum legte einen Umschlag voller Papiere auf der Kücheninsel ab, wobei Dad ihr den dünnen Cardigan auszog und diesen an der Garderobe aufhing. »Euer Vater hat euch beide heute Nacht ins Bett gebracht. Wir sind alle auf der Couch eingeschlafen und Max lag ganz schön verdreht«, erklärte Mum gut gelaunt und gab Dad ein Küsschen auf dem Mund.
Oh je. Ich stellte mir bildlich vor, wie mein Vater mich die Treppe hatte hochhieven müssen. Denn ich war genau wie er zwar schlank, dennoch groß für ein Mädchen. Bei allem Respekt: Dad war nicht gerade der Stärkste. »Darf ich rausgehen?«
»Klar. Geh bitte nur nicht zu weit weg«, bestand Dad. In Mums Gegenwart versuchte er immer etwas strenger zu sein. Aber das lag ihm überhaupt nicht.
Leicht belustigt ging ich hoch in mein Badezimmer, um mich frisch zu machen und meine langen Haare zu kämmen. Nach einer kurzen Überlegung, trug ich mir etwas Wimperntusche auf. Schnell entschlossen zog ich mir eine sehr kurze helle Jeans und ein dunkelblaues Tank-Top an. Dazu wählte ich halbhohe beige Stiefel. Eine Sonnenbrille durfte natürlich nicht fehlen. Ich hatte kein Problem damit, ungeschminkt aus dem Hause zu gehen, doch hatte ich auch nichts dagegen, mich ein wenig aufzubrezeln. Das trug auch zu meinem Selbstbewusstsein bei. Klar gab es ein paar Sachen, die an mir nagten. Meine Augen zum Beispiel. Sie ließen mich blass, irgendwie farblos wirken. Oder ich hätte gerne vollere Lippen gehabt, sähe erwachsener aus oder wäre lieber ein Stückchen kleiner. Aber im Großen und Ganzen war ich zufrieden und musste nicht perfekt sein – außer beim Schwimmen. Keine einzige Niederlage oder Verschlechterung, was die Schnelligkeit unter Zeitvorgabe anging, duldete ich. Da wollte ich perfekt sein.
Gewappnet für den Tag ging ich hinaus, sog kräftig die Frühlingsluft ein und genoss den Duft von blühenden Blumen. Erstaunlich warm für Mitte März, dachte ich gut gelaunt. Die Vögel zwitscherten und die Bienen summten, während ich durch den dichten Wald schlenderte. Die vielen Pfade gaben dem Wald etwas Geheimnisvolles, Verwunschenes. Am See ließ ich mich unter einer Weide nieder und las dort gute zwei Stunden in meinem Lieblingsbuch. Es war ein Abenteuerbuch, in dem ein tapferer Held gegen seine Feinde kämpfte, um der Entdecker des Schatzes, bestehend aus spanischem Gold, zu werden. Ich hielt nichts von purer Romantik oder übersinnlichen Dingen, weil ich ohnehin nicht daran glaubte. Mir waren meine Halluzinationen schon abstrus genug …
Ich schlug das Buch zu. Durch die wärmenden Sonnenstrahlen verführt, zog ich meine Stiefel aus und prüfte mit meinen Zehen die Wassertemperatur. Es fröstelte mich und ich zog meinen Fuß schnell zurück. Es war definitiv noch zu kalt. Aber Dad hatte mir ja bereits gesagt, dass es ein Schwimmbad im Dorf gab. Nachdem ich mir die Stiefel wieder angezogen hatte, beschloss ich nun die Hauptstraße entlang zu gehen. In die Stille der Natur schlich sich das unbehagliche Gefühl ein, morgen den ersten Schultag zu haben. Wie meine Mitschüler wohl sein würden? Unschöne Gedanken machten sich in meinen Kopf breit. Was, wenn sie alle furchtbar unfreundlich waren? Wie sollte ich den morgigen Tag bloß überstehen? Ich wusste, dass ich mir wahrscheinlich zu viele Gedanken machte. Aber bisher musste ich noch nie die Schule wechseln und ich hatte schon oft gehört, dass es nicht gerade toll sein sollte. Während ich dem Zentrum des kleinen Dorfes näher kam, zerbrach ich mir weiter den Kopf darüber, wie der morgige Tag laufen würde. Ich sah mich um und mein Blick blieb an einer kleinen Bar namens "The Barrow" hängen. Überrascht darüber, überhaupt einen Laden in dieser kleinen Ortschaft zu finden, trat ich ein und nahm meine Sonnenbrille ab. Erst jetzt bemerkte ich, wie durstig mich der ausgiebige Spaziergang gemacht hatte. Es dauerte einen kurzen Moment, bis sich meine von der Sonne geblendeten Augen an die Dunkelheit der Bar gewöhnten.
Von innen sah die Bar erstaunlich besser aus, als die Außenfassade vermuten ließ - zwar klein und dunkel, wirkte es hier drin recht gemütlich und ich setzte mich an die Theke.
Es roch nach Bier, Zigaretten und Schweiß. Ein passender Geruch, dachte ich.
»Was willst du trinken, Süße?«, fragte mich eine einfach gekleidete Frau von schätzungsweise Mitte vierzig. Ihr blondes, sehr fein gelocktes Haar entsprach dem Stil der Achtziger. Ebenso die fetzige, blaue Schminke, die ihre blaugrünen Augen betonten.
»Ähm … eine Cola, bitte.« Ich ließ meine Augen durch die dunkle Bar streifen und erblickte an einem großen runden Holztisch fünf Männer, die in aller Seelenruhe Karten spielten. Der eine, der wie ein Rowdy aussah, trug eine schwere Lederweste mit dutzenden, vermutlich bedeutungsvollen Motiven. Ein anderer war ziemlich dünn, fast zu dünn. Die anderen drei sahen aus wie Drillinge und trugen ihre langen Haare zu einem Zopf. Unerwartet schlug einer von ihnen mit seiner Faust auf den Tisch und beschwerte sich über das verlorene Spiel. Kurz danach tranken die Männer bei jedem Spielzug irgendein Getränk.
»Hier, deine Cola«, riss die Kellnerin mich mit ihrer freundlichen, klaren Stimme aus meinen Gedanken.
»Danke«, gab ich nett zurück. Mich erstaunte die Vielfalt der Spirituosen, die hinter der Theke die gesamte Wand bedeckte. Auf der Wand am Eingang sah ich mehrere eingerahmte Zeitungsartikel, auf denen scheinbar die Eröffnung von ›The Barrow‹ gefeiert wurde. Auf anderen sah ich ein paar Leute, die überglücklich lächelten, über deren Hintergrund ich aber auf die Entfernung hin nicht mehr lesen konnte.
»Und, was macht ein Mädchen wie du so allein? Wo sind deine Freunde?«, fragte die Barkeeperin interessiert, während sie die Oberfläche reinigte und Aschenbecher leerte.
»Ich bin neu hier. Morgen geht mein erster Schultag auf der St. Upper los.«
Die Frau stoppte das Putzen und stütze ihre Arme an der Theke. »Verstehe. Dann wird hier bald auch wieder mehr los sein. Die Schüler kommen gerne her«, erklärte sie offenherzig mit einer leicht rauen Stimme und sah mir tief in die Augen. Ich nickte, erstaunt über diese Neuigkeit und nahm einen erfrischenden Schluck der kalten, süßen Cola. Mein Hals war unglaublich trocken vom Spaziergang und der Hitze.
Die Kellnerin wandte sich nun den Gläsern zu, um sie zu spülen. Ich nahm noch einen großen Schluck Cola, stoppte jedoch, als die Hintertür neben der Theke unerwartet aufschwang. Ein braungebrannter, attraktiver, junger Mann trat herein und widmete sich direkt der Barkeeperin. Während er sich mit ihr über irgendwas unterhielt, musterte ich neugierig seine schwarzen, stufig geschnittenen Haare und das besondere Profil seines leicht spitzen Gesichtes. Mein Blick wanderte über seine gerade Nase sowie die vollen Lippen, die sich in einem zarten Rotton von der Körperbräune abhoben. Seine dunklen Augenbrauen und die Stirn waren gesenkt, wodurch sich seine Augenfarbe vor mir verbarg. Mir blieb die Luft im Hals stecken, denn seine Ausstrahlung war enorm, fast nichtirdisch. Sie versetzte mir dermaßen einen Schlag, dass ich ihn sprachlos anstarrte. Wie konnte man so gut aussehen? Und erst recht in dieser einsamen Gegend. Mein Körper verkrampfte sich unangenehm. Scheinbar spürte er mein endloses Anstarren und sah zu mir, sodass mir jegliche Farbe aus dem Gesicht wich.
Für einen langen Moment spürte ich seinen erstarrten Blick auf mir haften, bis sich seine Stimmung schlagartig in Wärme umkehrte. »Na, Neuling«, meinte er zu mir, wobei seine wiesengrünen Augen funkelten und seine Lippen sich zu einem schiefen Lächeln verzogen. Die dunkle, klare, melodisch klingende Stimme und diese alles andere als scheue Begrüßung ließen mich beschämt den Blick senken. Mir schien es, als würde mein gesamter Körper erröten und mir war auf einmal sehr warm. Mit diesen zwei kurzen Worten wusste ich sofort, dass er jeden in seinen Bann zog. Dass er mit Selbstsicherheit und Bestimmtheit durchs Leben ging.
Um nicht stumm dazusitzen, brachte ich wenigstens ein »Na« heraus und grinste unauffällig.
»Noch eine Cola?«, fragte er mich mit leicht geneigtem Kopf. Eine Haarsträhne fiel ihm ins Gesicht und legte sein linkes Auge in einen Schatten. Verwundert schaute ich auf mein Glas hinab, bevor ich bemerkte, dass es schon leer war. »Oh, ja … gerne.« Ich blinzelte, als wäre mir eine starke Brise ins Auge geweht. Mir entwich ein seufzender Atemzug und ich spürte, wie perplex ich wegen seines Auftretens war.
»Kommt sofort.« Er wandte mir den Rücken zu, während er sich den Gläsern widmete. Die Seiten seiner Haare waren in einer Art Undercut rasiert, über die volle schwarze Strähnen vom Oberkopf herabfielen. Dieser verwegene Haarschnitt in Kombination mit seinem weichen Gesicht, übten eine merkwürdige Faszination auf mich aus. Interessiert beobachtete ich ihn dabei, wie er die Cola ins Glas fließen ließ. Ich ließ meinen Blick von seinen Händen, über seine muskulösen Arme, zu seinen breiten Schultern gleiten. Zu seinen Freizeitaktivitäten gehörte eindeutig Krafttraining, dachte ich und versuchte ein Grinsen zu unterdrücken.
Als er das Glas direkt vor mir abstellte, blickte er mir mit seinen Augen, in denen es undefinierbar funkelte, in die meinen.
»Danke.« Ich verstand nicht, was es war, beschäftigte mich aber auch nicht weiter damit. »Arbeitest du öfter hier?«, fragte ich neugierig in der Hoffnung, ein Gespräch mit ihm aufbauen zu können.
Mit seinen starken Armen lehnte er sich lässig an die Zapftheke. »Ja. Mit siebzehn, also vor einem Jahr, hab ich angefangen. Und nenn' mich einfach Daikin«, sagte er freundlich. Seine grünen Augen leuchteten unglaublich kräftig. Meine Lieblingsfarbe war ohnehin schon immer grün gewesen. Und seine Augen waren besonders lebendig.
Noch immer etwas dümmlich grinsend, nickte ich schließlich. Warum versetzte er mir so einen Schlag? Ich verstand meine Gefühle nicht …
»Ich heiße Elaine.«
Der neugierige Blick verwandelte sich in einen nachdenklichen, irgendwie entgeisterten Ausdruck. Es dauerte einen Moment, bis er reagierte. »Elaine. Ein schöner Name. Du bist neu hier, oder? In so einem kleinen Dorf fällt das schnell auf«, fügte er schnell hinzu und sortierte Cocktailzubehör. Schöner Name, hallte es in meinem Kopf und ich erfreute mich einen Moment daran, wie ein kleines Kind über etwas Süßes. Dennoch verstand ich nicht, warum er so reagierte. Er hatte sich dem Cocktailkram so schnell gewidmet, als wolle er flüchten.
»Ich gehe ab morgen auf die St. Upper«, versuchte ich das Gespräch in Gang zu halten.
Nicht rot werden, Elaine.
»Wow. Eine edle Schule.«
Edel? »Wieso? Weißt du etwas über sie?« Neugierig schaute ich ihn an. Daikin legte den Kram beiseite und stützte seine Arme auf die Spültheke, wobei er sich ein Stück zu mir beugte. Ich schluckte. Er stand mir näher und seine Arme… oh, seine Arme …
»Ist halt 'ne Schule. So wie jede andere, nur luxuriöser und sehr teuer. Da gibt's viele coole Dinge, die dir bestimmt gefallen. Verschiedene Kurse und so.«
Wow. Vielleicht ja auch Schwimmen. Aber das wollte ich ihm nicht sagen. Keine Ahnung, warum ich es ihm vorenthielt. »Ja, ich weiß, dass die sehr teuer sein soll. Meine Eltern übertreiben es gerne. Sie machen sich zu viele Gedanken.«
»Sei froh, solche Eltern zu haben. Nicht alle Eltern kümmern sich so gut um ihre Kinder«, sagte er schulterzuckend. Mich brachte es ein wenig zum Grinsen.
»Wieso? Tun deine das etwa nicht?«, entgegnete ich neugierig, wobei ich meine direkte Art sofort peinlich fand. Manchmal hasste ich meine energische Seite, die selten – damit meine ich wirklich selten – zum Vorschein kam. Aber Daikin warf mich völlig aus der Bahn. »Sorry, du musst nicht darauf antworten. War blöd von mir.«
Er zögerte einen Moment, bis er mir etwas ernster erklärte: »Meine Eltern sind gestorben, als ich dreizehn war.«
Die peinliche Stille, die durch mein eigenes Verschulden entstanden war, ließ mich stottern. »Tut mir leid. Ich wollte nicht ...«
»Nein, nein. Hör auf, dich zu entschuldigen. Ist doch nichts passiert.« Er warf mir charmantes Lächeln zu. Seine positive Ausstrahlung bewunderte ich sofort, obwohl ich ihm zugegebenermaßen zu nahe getreten war.
Nachdem Daikin die Gläser weggespült hatte, bediente er die fünf Männer, die noch immer Karten spielten. Sie begrüßten ihn freundlich, kannten ihn wohl schon länger. Der Rowdy bestellte für seine Freunde und selbst jeweils einen doppelten Schnaps. »Willst du auch einen Schnaps, Süße?«, fragte dieser mich.
»Nein, danke. Ich bin erst siebzehn«, erklärte ich heiter.
Daikin brachte den Männern die Getränke, wobei ich meinen Blick nicht von ihm abwenden konnte. Was hatte er an sich, das mich dermaßen in seinen Bann zog?
»Noch was trinken?«, fragte er, als er wieder zu mir kam, mit leeren Schnapsgläsern in der Hand.
Ich könnte Wurzeln hier schlagen, aber … »Nein. Es ist schon spät. Ich muss nach Hause. Sonst gibt meine Mum noch eine Vermisstenanzeige auf. Wie viel bekommst du?«
Er schüttelte den Kopf, was wieder dazu führte, dass ihm die schwarzen Haare ins Gesicht fielen. »Geht auf mich. Als Willkommen im Städtchen.« Er zwinkerte mir zu und ich kicherte verlegen. In meinen Wangen begann es zu pochen. Hoffentlich sah er das nicht.
»Danke, Daikin.« Ich warf ihm ein Lächeln zu und machte mich auf den Weg zur Tür.
»Hey, wie kommst du nach Hause?«, fragte er mich. Mir schien die Frage etwas komisch. Bevor ich antworten konnte, fügte er hinzu: »Es ist schon dunkel und man verläuft sich ziemlich schnell im Wald.«
Ein sanftes Lächeln zuckte in meinen Mundwinkeln. »Na, zum Glück habe ich einen relativ guten Orientierungssinn«, gab ich zurück und öffnete die Bartür. »Vielleicht sieht man sich nochmal.«
Überrascht schaute er mich an, bevor ich nach draußen trat. »Da bin ich mir sicher.«
Beim Verlassen der Bar sah ich, dass es bereits dämmerte. Also zog ich schnell mein Handy heraus und musste feststellen, dass ich vierzehn Anrufe von Mum in Abwesenheit hatte. Schließlich war es schon recht spät. Aber ich verstand nie, warum sie sich immer solche Sorgen machen musste. Letztendlich wohnten wir jetzt in einem Dorf, wo es schon ein Wunder war, wenn ein Auto an einem vorbei sauste. Aber würde ich ihr genau das erklären, hätte sie selbst dafür einen Konter parat. Ich beschloss, ihr eine SMS zu schreiben: »Bin auf dem Heimweg.«
Der Rückweg schien eine Bestrafung für die herrliche Hitze heute Mittag gewesen zu sein. Denn ein kühler Wind wehte in meinen Rücken und zerrte an meinen Haaren. Doch obwohl die Abenddämmerung schon begann und es ziemlich schnell dunkel wurde, hatte ich keine Angst, alleine unterwegs zu sein. Die dichten, grauen Wolken am Himmel tauchten den Frühlingsnachthimmel in ein dunkles Grau. Die ganze Zeit musste ich an Daikin denken, wie er hinter dem Tresen stand und mich mit seinen faszinierend grünen Augen anschaute. Dieses perfekte Profil seines Gesichtes und diese krasse Ausstrahlung bereiteten mir ein flatterndes Gefühl in der Magengegend. Ein ungewohntes Gefühl. Es wurde noch kälter und dunkler. Für einen Moment dachte ich, etwas im Wald umherhuschen gesehen zu haben. Ein hellgrauer Fleck, der durch das Geäst gesprungen war. Ich blieb kurz stehen, in der Hoffnung eine Bestätigung dafür zu bekommen. Aber es war alles still, nichts regte sich, also ging ich weiter. Ich hörte ein Rascheln und drehte mich sofort um. In den Büschen bewegte sich etwas, doch das musste wohl ein wildes Tier sein. Eine unangenehme Kälte durchfuhr meine Gliedmaßen. Ich schaute mich nochmals um. Doch alles blieb still. Den Kopf schüttelnd machte ich mich auf den Heimweg. Ein unbehagliches Gefühl, beobachtet zu werden, breitete sich in mir aus. Durch die Bäume am Straßenrand strahlte das letzte bisschen Tageslicht, das sich nur schwer einen Weg durch die Wolkendecke bahnen konnte. Aus dem Nichts sprang etwas Großes vor mir her und ich schrie auf. Erschrocken fiel ich zu Boden und sah dann, dass es nur ein Reh war, das über die Straße gerannt war. Ich atmete hastig aus, fuhr mir mit der Hand über die Stirn. Gerade, als ich mich wieder entspannte, flogen mehrere Vögel über mich hinweg – sie kamen aus derselben Richtung, aus der das Reh gestürmt kam. Dieselbe Richtung, aus der auch das Rascheln und der hellgraue Fleck kamen. Was ist hier los?
Ich bekam es mit der Angst zu tun und entschied mich, den Waldpfad im Joggingtempo nach Hause zu hasten. Die Äste unter meinen Schuhen knirschten und knacksten bei jedem Schritt. Es war zwar nicht mehr weit bis zum Haus, doch mir rutschte das Herz in die Hose, als ich etwas auf dem Pfad vor mir hocken sah. Die kleine Kreatur war nicht größer als ein mittelgroßer Hund, doch sie ähnelte auch keinem mir bekannten Tier. Ich erschauderte, mein Atem ging stoßweise, nachdem ich auf der hellgrauen, haarlosen Kreatur zwei teufelsgleiche, große Hörner aus dem Kopf herausragen sah. Ihr Rücken hatte einen riesigen Buckel und endete in einem langen, echsenähnlichen Schwanz. Sie sah mich mit geneigtem Kopf aus pechschwarzen Augen an, die mindestens dreimal so groß waren wie die eines Menschen. Die nasenlose Kreatur machte einen Satz auf mich zu, sodass meine Starre sich auflöste und ich schreiend davonlief. Hinter mir hörte ich ihre zweigliedrigen Füße im Geäst hüpfen und ich stellte mir vor, wie sie mich verfolgte. Wie sie mich versuchte einzuholen und im schlimmsten Fall mit ihren Hörnern attackierte.